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Nr. 1 / 2019
Plurale Identität

We'll come united. Zur fragilen Performanz pluralisierter Kollektivität

In den letzten Jahren hat sich ein neuer Typus von Kollektiven herausgebildet: Kollektive, die für Einzelne keine identitätsstiftende Funktion mehr ausüben, sich nur für einen begrenzten Zeitraum zusammenfinden und in ihrem Vollzug erst bilden. Diese Vollzüge verstehen wir als genuin politische Praxis. Wir beschränken Politik daher nicht bloß auf Verfahren deliberativer Abwägungen von Individualinteressen, sondern rücken gerade die Formierung, Gruppierung und Artikulation von politischen Forderungen in den Mittelpunkt. Eine unserer Thesen ist es nun, dass diese Prozesse nicht allein inhaltlich zu deuten sind, sondern die Form von Kollektivität wiederum selber die Bedingungen von Subjektivität und Kollektivität thematisiert. Dabei tragen sie ein kritisches Potenzial in sich. In diesem Sinne sind Kollektive sowohl nach innen als auch nach außen hin politisch.

Leitend ist für uns die Annahme, dass sich die so verstandene Kollektivität primär in Handlungen zeigt und formiert. Im Gegensatz zu sozialen Marken wie Klasse, Geschlecht oder race steht für das Kollektiv die gemeinsame Handlung im Vordergrund. Kollektivität zeigt sich also vor allem im kollektiven Handeln, obgleich darin die Kollektivität nicht aufgehen muss.

Wir beziehen uns im Folgenden auf Judith Butlers jüngstes Werk zur Performativität von Versammlungen, insbesondere auf den Begriff der Prekarität. Ergänzen möchten wir die Überlegungen mit Isolde Charims zeitdiagnostischen Analysen zur Pluralisierung und den verschiedenen Formen des Individualismus. Im Hintergrund stehen dabei Hannah Arendts Überlegungen zum Handeln.

Für die Beschreibung von Kollektivität wählen wir eine holistische Perspektive, das heißt, Kollektivität kann nicht auf individualpsychologische Phänomene reduziert werden. Vielmehr gehen wir davon aus, dass sich Handeln zwischen Menschen ereignet und dadurch erst bedeutungsvoll wird. Mit Arendt ließe sich sagen: Ein einzelner Mensch kann nicht handeln.

Wir gehen davon aus, dass Kollektive Ermächtigungsstrategien sind, die auf partielle Ohnmacht oder auf mangelhafte Möglichkeiten der Partizipation reagieren. Dennoch sollten Kollektive nicht auf einen Zusammenschluss von Einzelinteressen, die deckungsgleich sind, reduziert werden. Hinzu kommt eine Idee von einem guten und gelingenden gemeinsamen Leben und Handeln, das über das jeweils konkrete Ziel hinausgeht. Das heißt, die Art und Weise, wie gemeinsam gehandelt wird, ist selbst inhaltlich bestimmt. So zeigt sich in der Selbstzuschreibung von Kollektiven eine starke Überschneidung von kollektivem und individuellem Ethos. Somit fungieren Kollektive als Gegen-Gemeinschaften, die experimentell und offen alternative Lebens- und Handlungsmodelle erproben und demonstrieren.

Wir möchten bei Kollektiven, an denen dieses Moment stark hervortritt, von pluralisierter Kollektivität sprechen. Hier gehen die Interessen der Einzelnen nicht länger in einem gemeinsamen Ziel auf. Die subjektive Identität lässt sich nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ableiten. Vielmehr scheinen sich Einzelne in ihrer Pluralität zusammenzuschließen, um für einen bestimmten Zeitraum ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, während sie ihre individuellen Ziele beibehalten. Phänomene oder Gruppierungen wie Nuit debout, Occupy oder aktuell die Gilets jaunes, aber auch breite Bündnisse wie die We’ll Come United-Demo weisen Züge einer solchen pluralisierten Kollektivität auf. Dabei wird die Pluralität solcher Kollektive nicht einfach als eine Eigenschaft oder gar als ein Hindernis wahrgenommen. Sie ist vielmehr eine notwendige Voraussetzung für den Kollektivitätsbegriff, den wir vorschlagen wollen.

Pluralisierte Kollektive konstituieren sich situativ durch körperliche Ko-Präsenz. Es handelt sich bei ihnen weniger um seit langen erprobten Netzwerken, sondern eher um lockere handlungsbasierte Zusammenschlüsse, die sich in ihrem Vollzug organisieren. Damit ist nicht gesagt, dass sie gewissermaßen „aus dem Nichts“ entstehen. Selbst bei Bewegungen wie Nuit debout oder Gilets jaunes finden sich Vorbereitungen, die die Bewegungen als solche erst ermöglicht haben.

Das gemeinsame, aber dadurch nicht uniforme Handeln verbindet Einzelne zu einem Kollektiv. Pluralisierte Kollektive erscheinen und formen sich primär im Akt des Vollzugs. Doch die Subjekte gehen nicht in der Menge auf, sondern formieren sich unter einem verbindenden Themenkomplex zu einem Kollektiv auf Zeit.

Jede*r steht für sich allein mit dem eigenen Körper ein und zugleich stehen alle für eine Vielheit und damit für die nicht bloß notwendige, sondern positiv gedeutete Pluralisierung des Kollektivs. Im Kleinen lebt damit ein Kollektiv vor, was es als normative gesamt-gesellschaftliche Vision einfordert. Darin findet sich das emanzipatorische Potential pluralisierter Kollektive: alle stehen für eine zu verwirklichende Pluralität. Diese Formen pluralisierter Kollektive sind nicht erst durch die Durchsetzung einer spezifischen politischen Agenda wirksam, sondern bereits ihr Erscheinen, genauer gesagt die Art ihres Erscheinens, enthält widerständiges Potential. Mit Butler lässt sich dieses Potential genauer beschreiben. In ihrem Vollzug inszenieren Kollektive eine politische Lebensform, deren Verunmöglichung und Un-lebbarkeit unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen angeklagt werden.

„Das bedeutet auch, dass die Form des Widerstands selbst, die Art und Weise, in der Gemeinschaften organisiert sind, um sich der Prekarität zu widersetzen, idealerweise beispielhaft für genau die Werte stehen sollte, für die diese Gemeinschaften kämpfen“ (Butler 2018, 93, herv. M.D).

Ein Merkmal pluralisierter Kollektive wäre daher auch andauernde Reflexion und Ausein­andersetzung mit den eigenen Mitteln und Zielen. Dies bezieht sich sowohl auf die individuelle als auch auf die gesellschaftliche Ebene: „So beginnt im Idealfall eine Allianz damit, die Gesellschaftsordnung zu inszenieren, die sie durchsetzen will, indem sie ihre eigenen Formen der Soziabilität etabliert“ (Butler 2018, 114, 120f.).

In Ansätzen lässt sich dieses Moment bei jüngsten Großdemonstrationen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wie der Unteilbar-Demo in Berlin oder We’ll Come United in Hamburg erkennen: „Er wird unser Tag. Wir sind viele, wir sind verschieden und wir kämpfen jeden Tag vor unserer Haustür“ (We’ll Come United 2018).Die Teilnehmenden beider Demonstrationen bildeten ein breites Spektrum bereits vorher politisch aktiver Gruppierungen ab. Hinzu kamen bis dato unpolitische Einzelpersonen. Was sie zu einem Kollektiv auf Zeit verband, war der Wunsch nach einer offenen und pluralen Gesellschaft. Hier wurde nicht nur in stellvertretender Solidarität Toleranz eingefordert, sondern der Wunsch nach einer offenen Gesellschaft, die auch Widersprüche aushält, auf die Straße getragen und im öffentlichen Raum inszeniert.

Mit Isolde Charim kann man das Entstehen dieser Form von Kollektivität auf das zurückführen, was sie den „dritten Individualismus“ nennt. Jeder Form von Individualismus ordnet sie eine spezielle Weise zu, politische Gemeinschaften zu bilden. Im ersten Individualismus bedeutet das für ein einzelnes Subjekt, in der Masse, etwa der Partei oder der Nation, aufzugehen, vollständig zum Teil von ihr zu werden. Im zweiten Individualismus konzentriert sich das Subjekt auf denjenigen Aspekt der eigenen Besonderheiten, mit dem es Teil einer politischen Gruppe werden möchte (weiblich, schwarz, homosexuell, transgender, etc.). Ein spezifischer Teil der eigenen Identität wird also gewissermaßen ver-öffentlicht und somit zum Gegenstand und Einsatz politischer Auseinandersetzungen (vgl. Charim 2018, 109). Im Gegensatz zu den ersten beiden Formen des Individualismus diagnostiziert Charim für die dritte Form eine subjektive Komponente von Partizipation, die in ihren Augen entscheidend ist: „das subjektive Gefühl, gehört zu werden, anerkannt zu werden, sich gemeint fühlen“ (Charim 2018, 110.). Einzelne möchten in der je eigenen Einzelheit anerkannt und aus dieser heraus politisch aktiv werden. Es geht nicht mehr darum, das eigene Anliegen an Repräsentant*innen zu delegieren. Vielmehr sollen Formen gemeinsamen Handelns gefunden und praktiziert werden, in denen trotzdem die jeweils konkrete Einzelheit beibehalten wird und sogar besonders zum Ausdruck kommt. Pluralisierte Kollektive sind eine Möglichkeit, gemeinsames Handeln und den Wunsch danach, auch innerhalb einer Gruppe als Einzelne aufzutreten, zu verbinden (vgl. Charim 2018, 112f.). Engagement und Identität fallen ineinander – oder anders: das Engagement muss zur eigenen Identität passen und diese gleichzeitig zum Ausdruck bringen.

Charim stellt fest, dass weniger die politischen Forderungen, sondern vielmehr der konkrete Moment des Protestes selbst und die dafür geschaffenen bzw. erschlossenen oder behaupteten Orte von Bedeutung sind. Die Unzufriedenheit und Empörung finden ihren Ausdruck außerhalb der bisher dafür vorgesehenen Orte. Sie findet dafür den schönen Ausdruck „expressive Politik“ (Charim 2018, 115) und betrachtet diese als eine Stärke: „Was solche Bewegungen leisten können, ist, Gefühle nicht nur zu versammeln, sondern Emotionen zu verdichten an einem Ort, zu einem Moment“ (Charim 2018, 117). Auch Butler spricht von der „expressive[n] oder signifizierende[n] Funktion improvisatorischer öffentlicher Versammlungsformen […]“ (Butler 2018, 33). Butler betont, dass es hierbei nicht allein um die Darstellung eines schon vorhandenen politischen Willens geht, sondern überhaupt erst um die Artikulation und Bildung eines solchen. Man könnte also sagen, dass Proteste zu gemeinsamen Aufführungsorten der je eigenen Emotionen werden und genau in dieser Gleichzeitigkeit des Ausdrucks ein kollektives Moment entsteht. Diese interne Pluralität ermöglicht ein gemeinsames Handeln, ohne dass die Emotionen des Individuums im Kollektiv aufgehen oder wie Butler festhält: „Gemeinsam zu handeln heißt nicht, in Übereinstimmung zu handeln“ (Butler 2018, 204). Auch Butler geht davon aus, dass bereits das Erscheinen von Körpern im öffentlichen Raum eine Inszenierung von Widerstand sein kann. Die gemeinsame Anwesenheit dieser Körper gibt auch ohne Worte zu verstehen, dass etwas nicht so weitergehen kann wie bisher, dass der Wille nach Veränderung besteht.

Dass verdichtete oder sich mit der Zeit verdichtende Emotionen eine starke Anfangsmotivation sind, aus der gemeinsames Handeln hervorgehen kann, lässt sich auch für die Anfänge von Nuit debout beobachten. Bei der Entstehung pluralisierter Kollektive findet immer auch eine Begegnung zwischen Individuen statt, die nach Gemeinsamkeiten suchen, nach Anknüpfungspunkten und Ausdrucksmöglichkeiten für ihre eigenen Motivationen und Emotionen. Im Falle von Nuit debout kommen mehrere Faktoren zusammen: Ab dem 31. März 2016 versammelten sich allabendlich auf dem Place de la République in Paris Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus. Ihre Empörung über eine zu dem Zeitpunkt geplante Reform des Arbeitsrechts war der Anlass – oder der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Dieses Arbeitsgesetz erinnert an die Hartz IV-Reformen in Deutschland. Es wurde befürchtet, dass es die ohnehin prekären Arbeitsbedingungen, insbesondere für junge Menschen, weiter verschärfen würde. Oft wird der Protest gegen dieses Gesetz jedoch nur als ein Vorwand bezeichnet. Patrick Farbiaz, selbst aktiv bei Nuit debout, bescheinigt der Bewegung in einem Interview mit dem Deutschlandfunk eine, im Wortsinn, radikalere Motivation:

„Alle Welt stellt Erwartungen an die Präsidentschaftswahl, aber nicht die Nuit Deboutisten, sie erwarten nicht wirklich etwas. Ihre Forderungen gehen in eine andere Richtung, sie sind auf der Suche nach wirklicher Demokratie, von unten“ (Jung 2017, 26).

Der Wunsch nach wirklicher Demokratie, nach echter Teilhabe ist es also möglicherweise, auf dem die Allianz zwischen ganz unterschiedlichen Menschen und Gruppen gründet. Die jeweilige Anfangsmotivation der Einzelnen mag verschieden sein, doch gerade deshalb lassen sich bei Nuit debout Merkmale pluralisierter Kollektive feststellen: Auf dem Place de la République waren das gemeinsame Aushandeln und Verhandeln von Zielen und Vorgehensweisen elementarer Bestandteile der Proteste. Auch die betonte Bereitschaft, allen zuzuhören, die sich zu Wort meldeten, gehörte zu dem Selbstverständnis der Teilnehmenden. Die Besetzung eines zentralen öffentlichen Platzes kann zudem als Herausforderung der Regierung gelesen werden. Aus dem teils sehr aggressiven Vorgehen der Polizei, besonders zu Beginn der Bewegung, kann man ableiten, dass Nuit debout durchaus als eine Bedrohung, zumindest aber als eine Provokation gesehen wurde.

Eine Provokation der Regierung lässt sich derzeit wieder in Frankreich beobachten. Bei der Bewegung der Gilets jaunes – die alsProtest gegen eine Erhöhung der Kraftstoffpreise Ende Oktober 2018 begonnen hat – handelt es sich um eine sehr heterogen zusammengesetzte Gruppe (vgl. Rucht 2019). Ist dies bloß der konsequente Ausdruck einer pluralisierten Gesellschaft? Oder kann man hier auch von einem pluralisierten Kollektiv sprechen? Unter den Protestierenden finden sich Menschen mit verschiedensten Hintergründen, die aus einer geteilten Erfahrung des Leids zusammenkommen. Mit Butler könnte der Protest der Gilets jaunes als Inszenierung von Prekarität gelesen werden, bei dem es um die Ungleichverteilung des Gefährdet-seins geht. Verbunden mit dem Begriff der Prekarität ist die Idee einer prinzipiellen Angewiesenheit und Verwundbarkeit aller Lebensprozesse (vgl. Butler 2018, 144f). Individuen schaffen es somit, aus dem neoliberalen Narrativ eines autarken Wirtschaftssubjekts auszubrechen. Nach diesem wird jede ökonomische Unzulänglichkeit auf die Verantwortung des Einzelnen abgewälzt. Dabei werden die infrastrukturellen Benachteiligungen nicht berücksichtigt. Zum anderen finden sich solidarisierende Effekte, da die Abhängigkeit nicht allein negativ verstanden wird, sondern Einzelne positiv an das Soziale zurückbindet. Corine Pelluchon fasst im Gespräch mit Elisabeth von Thadden zusammen:

„Die Gelbwesten sind ebenso Arbeiter, alleinerziehende Mütter, Rentner wie Unternehmerinnen, Lastwagenfahrer, Landwirte, sie setzen sich zu einer heterogenen Gruppe von Leuten zusammen, die sich entwertet und weder parlamentarisch noch in den Medien vertreten fühlt.“ (von Thadden 2018)

Es handelt sich gewissermaßen um einen Protest „von unten“, der sich relativ autark organisiert und gebildet hat und dezentralisiert von statten geht, in vielen Bereichen aber auch noch keine klaren Strukturen ausgebildet hat (Rucht 2019, 1). Unter dem gemeinsamen Erkennungszeichen – der gelben Warnweste – finden also Menschen zusammen, die das Gefühl verbindet, nicht richtig dazuzugehören oder von der Regierung nicht ausreichend bedacht zu werden. So kommentiert es auch der Sympathisant Édouard Louis:

„Diese Bewegung muss weitergehen. Weil sie etwas Richtiges, Dringendes, Radikales verkörpert. Weil sie endlich die Gesichter und Stimmen sichtbar und vernehmbar macht, die normalerweise in die Unsichtbarkeit gebannt werden“ (Édouard 2018).

Einheitliche Forderungen gibt es nicht, dafür einen Forderungskatalog mit etwa 100 Punkten, die sich zum Teil widersprechen (Cloris et. al. 2018). Die Gemeinsamkeit oder das, was der Bewegung möglicherweise kollektive Züge verleiht, lässt sich also nicht auf eine geteilte Vision zurückführen, sondern scheint vielmehr in der Inszenierung äußerlicher Gemeinsamkeit zu bestehen: Wer eine gelbe Weste trägt, gehört dazu.

Als reine Protestform haben Bewegungen wie Occupy oder Nuit debout nur auf Zeit bestanden. Die mittelfristigen Folgen waren gering, wenige Forderungen wurden umgesetzt (vgl. Hartleb2012). Möglicherweise war dies gerade dem Fehlen konkreter Forderungen oder offizieller Sprecher*innen geschuldet. Auch die Gilets jaunes verweigern sich oftmals den Gesprächen mit Politiker*innen und wollten keine Sprecher*innen wählen (vgl. Rucht 2019, 3.). Dies zeigt sich auch in dem Versuch, für ein Gesprächsangebot der französischen Regierung einzelne Vertreter*innen zu entsenden. Diesen gelang es nicht, die heterogenen Forderungen der Bewegung für den politischen Diskurs zu bündeln (Rucht 2019, 5f.). Außerdem ist zu beobachten, wie die Zustimmung in der Bevölkerung sinkt und gerade jüngste Ereignisse wie der Angriff auf Alain Finkielkraut durchaus problematische Züge der Bewegung erkennen lassen. Dieter Rucht spricht daher auch von einer „populistische[n] Schlagseite“ (Rucht 2019, 3). Ähnlich skeptisch lassen sich so auch die jüngsten Tendenzen der Bewegung einordnen, insofern die Anzahl der Teilnehmenden kontinuierlich fällt, während eine Zunahme der Gewalt, wie bei den Ausschreitungen am 16. März diesen Jahres, zu beobachten ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die inneren Konflikte erklären, die zwischen ersten Versuchen der Delegation und dem Selbstverständnis, eine Basis-Bewegung zu sein, schwanken. Hier wäre zu fragen, inwiefern eine klarere inhaltliche Bestimmung helfen könnte, sich von gewaltbereiten Gruppierungen abzugrenzen und so dem möglichen Vorwurf eines „Gewalttourismus“ etwas entgegenzusetzen.

Es bleibt die Frage, was aus diesen pluralisierten Kollektiven entstehen kann. Etwas, das auf der Ebene der individuellen Emotionen vielleicht nachwirkt, ist das Erlebnis, gemeinsam mit anderen etwas ausgedrückt zu haben. Aber wie ist es möglich, diese Energie nachhaltig zu nutzen und daraus etwas Dauerhaftes, über den Moment hinaus Wirksames zu schaffen? Ist die Überführung der ausgedrückten und verdichteten Emotionen dann womöglich wieder eine Aufgabe für Repräsentant*innen? Endet in diesem Moment das widerständige Potential kollektiv zum Ausdruck gebrachter Emotionen? Für Butler zumindest scheint gerade die Vergänglichkeit und Flüchtigkeit solcher Protestformen entscheidend zu sein:

„Versammlungen sind notwendigerweise vergänglich und diese Vergänglichkeit ist mit ihrer kritischen Funktion verknüpft. Man könnte nun beklagen, dass sie ja leider nicht von Dauer sind, und das Ganze für zwecklos halten, aber dieses Verlustgefühl wird durch die Aussicht, was kommen könnte, wettgemacht: ‚Sie sind jederzeit möglich!‘“ (Butler 2018, 31).

Pluralisierte Kollektive lassen sich auf ein verändertes Selbstverständnis politischer Subjekte zurückführen. Durch ihre Bindung auf Zeit ermöglichen sie Einzelnen, sich in ihrer Individualität gemeinsam mit anderen als politisch wirksam zu erfahren, ohne dabei die eigene Identität aufzugeben. Pluralisierte Kollektive scheinen oftmals aus emotional prekären Situationen oder Zuständen bzw. geteilten Erfahrungen von Prekarität hervorzugehen und diese in ihrer Ver-Öffentlichung gleichsam zu inszenieren. Das gemeinsame Handeln und die körperliche Ko-Präsenz, das tatsächliche Erscheinen im öffentlichen Raum, sehen wir als bedeutsam an. Pluralisierte Kollektive zeichnen sich durch kontinuierliche Aushandlungsprozesse hinsichtlich ihrer Ziele ebenso aus wie durch unbedingte Kontingenz: Der Ausgang des gemeinsamen Handelns ist ungewiss, denn auch der Zusammenschluss ist kein verbindlicher. Vielmehr ließe sich in Bezug auf pluralisierte Kollektive, wie wir sie hier zu beschreiben versucht haben, von einer fragilen Performanz sprechen. Mit der Schwerpunktverschiebung auf die Performativität des kollektiven Erscheinens laufen pluralisierte Kollektive Gefahr, zu flüchtigen politischen Eruptionen zu werden.


Literatur und Quellen

Butler, Judith: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung.Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag (2018).

Charim, Isolde: Ich und die Anderen. Wie die Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Zsonlnay (2018).

Cloris, Julie; Girard, Dorian; de Livonnière, Stanislas: Gilets jaunes: cinquante nuances de revendications, Le Parisien, 11.12.2018 (2018), http://www.leparisien.fr/economie/gilets-jaunes-cinquante-nuances-de-revendications-11-12-2018-7965951.php (zuletzt aufgerufen am 18.03.2019).

Hartleb, Florian: Die Occupy Bewegung. Globalisierungskritik in neuer Maskerade. Konrad-Adenauer-Stiftung: St. Augustin/Berlin (2012).

Jung, Ruth: „Unsere Träume passen nicht in eure Urnen“ Die Protestbewegung Nuit Debout in Frankreich, Deutschlandfunk, Erstsendung: Dienstag, 28.02.2017, 19.15 Uhr (2017), https://www.deutschlandfunkkultur.de/unsere-traume-passen-nicht-in-eure-urnen-pdf-dokument.media.bc7a2330bb02406d46661ab2f23df8ae.pdf (abgerufen am 15.03.2019).

Louis, Édouard: Wer sie beleidigt, beleidigt meinen Vater.ZEIT Online 05.12.2018 (2018), https://www.zeit.de/kultur/2018-12/gelbwesten-frankreich-gesellschaft-sozialitaet-klassen-gewalt-edouard-louis (zuletzt aufgerufen am 18.03.2019).

Rucht, Dieter: Die Gelbwestenbewegung. Stand und Perspektiven, ipb working papers 1/2019, https://protestinstitut.eu/wp-content/uploads/2019/02/dieter-rucht-gelbwesten.pdf (zuletzt aufgerufen am 17.03.2019).

von Thadden, Elisabeth: „Macron hat verstanden“, Interview mit Corine Pelluchon. ZEIT Online 29.11.2018 (2018), https://www.zeit.de/kultur/2018-11/corine-pelluchon-gelbwesten-protest-emmanuel-macron-frankreich (zuletzt aufgerufen am 18.03.2019).

We’ll Come United: Gegen Abschiebung, Ausgrenzung und Rechte Hetze – Für Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle! Aufruf der Initiative, (2018), https://www.welcome-united.org/de/aufruf/ (zuletzt aufgerufen am 11.03.2019).