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Nr. 1 / 2019
Buchempfehlung

Jean-Luc Nancy: Die verleugnete Gemeinschaft

Nicht selten kritisieren gerade jene Philosoph*innen einander aufs Schärfste, deren Positionen sich am nächsten sind. Jede Abgrenzung läuft dabei Gefahr, die eigene Position mehr und mehr in das Denken des Kontrahenten zu verwickeln. Und doch scheint die Auseinandersetzung um ein umkämpftes Feld notwendig. In einer ähnlichen Situation befindet sich wohlmöglich Jean-Luc Nancy, wenn er sich in seinem 2017 erschienenen Buch Die verleugnete Gesellschaft (fr. La Communauté désavoue,2014) entscheidet, zum Denken Maurice Blanchots (1907–2003) zurückzukehren. Im Jahre 1983 antwortete Blanchot mit seinem Buch La Communauté inavouable (dt. Die uneingestehbare Gemeinschaft) auf einen Aufsatz Nancys, der erst 1986 in Buchform als La Communauté désoeuvrée (dt. Die ent-werkte Gesellschaft) reüssieren sollte und seitdem die Frage nach der Gemeinschaft auf radikale Weise neu gestellt hat.

Die verleugnete Gesellschaft nun ist eine Art verspätete Antwort auf Blanchots Werk, wozu Nancy bemerkt, „dass ich in dieser Hinsicht seit dreißig Jahren in der Schuld bin“ (16). Dabei geht es Nancy einerseits darum, die eigene geistige Entwicklung kritisch von Blanchot abzuheben. Zum anderen aber reagiert er auf das seltsame Schweigen gegenüber La Communauté inavouable. So oft es in den jüngsten Debatten genannt wird, so selten finden sich genaue Lektüren dieses sperrigen Werkes Blanchots. Der Hauptteil des Buches besteht daher in einer kritischen Relektüre, die in tastenden und suchenden Bewegungen die verschiedenen Motive zusammenträgt. Dabei widersteht Nancy der Versuchung, Blanchot in fremde Begrifflichkeiten zu fassen, ihn sozusagen zu operationalisieren; vielmehr folgt er ihm in seiner mitunter höchst voraussetzungsreichen Terminologie und seinen anspielungsreichen Gedankengängen, was es den Lesenden nicht immer leicht macht.

Die damalige Ausgangsproblematik für Blanchot und Nancy war die „Erschöpfung [des…] realen Kommunismus“ (12) in den 1980er Jahren, die es erforderte, auf radikale Weise die Bedingungen von Gemeinschaft neu zu befragen. Dabei verbindet sie der Verdacht, dass ‚wir‘ als Demokraten zwar wissen, wogegen wir sind, aber nicht benennen können, wofür: „Diese Frage geht ihrem Wesen nach über jede Politik, jede Ekklesiologie, jeden Nationalismus oder Kommunitarismus hinaus und mehr noch über jede Art von Solidarität, Gegenseitigkeit oder Gemeinschaftlichkeit“ (10). Für diese Fragen versuchen beide Philosophen, das Denken George Batailles fortzuführen und zugleich zu überwinden.

Den Auftakt bildete Nancys Aufsatz von 1983, in welchem er versuchte, Batailles Konzept der starken Kommunikation nicht bloß auf das Moment der Liebenden zu beziehen, sondern darüber hinaus zu einen Begriff einer Gemeinschaft zu entwickeln, die sich „ent-werkt“, die sich also nicht schließt, sondern sich erst aus einer permanenten Spannung heraus ereignet, ohne dabei bloß unfertig zu sein. In dieser Idee von Gemeinschaft werden die Einzelnen nicht völlig aufgehoben, doch genauso wenig kann sie von einer wie auch immer gearteten Individualität abgeleitet werden, sondern ist verbunden mit der Ek-sistenz selbst, die das Gemeinsame auf einer ontologischen Ebene verortet. Dieses ausgesetzte Mit-Sein vollzieht sich als Kommunikation, die vor und über jeden Inhalt eine Beziehung stiftet und verbürgt. Mit-Sein zeigt, „dass es Übertragung, Übergang, Mit-Teilung gibt“ (25). Gegen diese Lektüre Batailles intervenierte Blanchot mit seiner Schrift, und das vorliegende Buch versucht nun diesen Streitpunkt hervorzuheben. Dabei gesteht Nancy ein, dass er damals mehr in Bataille gesehen hatte, als dieser tatsächlich bot.

Blanchot wiederum knüpft zwar an die Idee des Kommunismus an, löst diesen aber aus seiner engeren politischen Bedeutung. Dies zeigt sich an der Zusammenführung von „Herz“ und „Gesetz“ als zentralem Motiv: „[…] wenn das Gesetz nicht zum Herzen werden kann, so kann das Herz umgekehrt zum Gesetz werden über jedes Gesetz hinaus. Das ist vielleicht uneingestehbar“ (52). Blanchot entwickelt seinen Entwurf ausgehend von dem sozialen Nukleus der Liebesbeziehung: „Für ihn [Blanchot, M.D.] selbst ist es jedenfalls ganz entschieden die kleinste Zahl, auf die er seine Überlegungen zuspitzt: auf die Zwei, die sich wiederum auflöst in ein vergängliches 1+1.“ (22). Während Nancy also einen Primat des Mit-Seins anführte, der allen Selbstbezügen eingeschrieben ist und somit die Beziehung und ihre Termini konsubstantiell versteht, artikuliert Blanchot eine tiefliegende Skepsis gegenüber allen Formen der Gemeinschaft und betont gerade die disparate Isolation des Einzelnen. Darin folgt er Batailles These, dass jede ordentliche Gesellschaft zu einer Homogenität verdammt ist, die jede Form der Alterität neutralisiert. Blanchot will nun die binäre Gemeinschaft der Liebenden nicht auf ein Feld des Privaten zurückziehen. Wenn von Liebenden gesprochen wird, denkt er nicht an eine symbiotische Verschmelzung in romantischen Paarbeziehungen, die als Schablone für politische Entwürfe dienen sollen. Vielmehr denkt Blanchot eine Liebe, die um die eigene Unmöglichkeit der Vereinigung weiß, die sich gerade in der eigenen Vereinzelung dem Anderen bis aufs Letzte exponiert, sodass Beziehung und Nicht-Beziehung zusammenfallen: „Die Liebe ist der Versuch zu lieben“ (84), der Versuch, die Unmöglichkeit der Beziehung mitzuteilen. Für den Versuch, diese Nicht-Beziehung in ihrer radikalen Entzogenheit zu denken, braucht Blanchot allerdings so etwas wie eine transzendente Instanz, die er in den Mythos verlagert: „Durch das ‚Uneingestehbare‘ erklärt Blanchot, dass er […] den Bezug auf eine andere, spirituelle oder sogar mystische, jedenfalls entschieden auf die homogene Gesellschaft nicht zurückführbare Dimension für notwendig hält. […] Was auch immer die Demokraten sagen, diejenigen, die sich dem Absoluten öffnen, müssen sich zwingen, sowohl als Demokraten im Sinne von Gerechtigkeit, Gesetz und Gleichheit zu denken als auch als Aristokraten, im Sinne einer unangleichbaren Heterogenität“ (119). Blanchots unerbittlicher Versuch, die Unmöglichkeit der Kommunikation zu kommunizieren, trägt nach Nancy so letztlich Züge des Gewalttätigen. In diesem uneingestehbaren Rückgriff auf den Mythos, auf das Undarstellbare als radikal heterogenen Urgrund des Politischen erkennt Nancy einen problematischen „rechten Anarchismus“ und eine latente Verachtung für die Gesellschaft, die nicht völlig aus dem Werk Blanchots zu tilgen sei. Nancy spricht daher auch von einer Überwindung des Politischen im Denken Blanchots, die Gefahr läuft in eine „Ultra-Politik“ umzuschlagen. Gerade dieser Punkt ist für den heutigen Nancy nicht mehr haltbar, da er zu einer Überstrapazierung des Politik-Begriffs führt. So sehr Nancy also die Möglichkeit einer Gemeinschaft aus einer ontologischen Tiefendimension stark macht, so lehnt er doch die Vermischung von Ontologischem und Politischem ab.

Schließlich identifiziert Nancy zwei politischen Tendenzen bei Blanchot, die in der Person und dem Werk Blanchots niemals ganz zur Deckung kommen: Auf der einen Seite findet sich ein demokratischer Zug, der im Namen der Gerechtigkeit und Gleichheit auftritt, auf der anderen Seite finden sich Momente einer anarchistischen, aristokratischen, gesetzlosen Leidenschaft. Insbesondere das Interview mit Jérôme Lèbre, das als Anhang dem Haupttext angegliedert ist, zeugt von dem ambivalenten Verhältnisse zu Blanchot und hilft zugleich Nancys Position klarer zu erkennen. Doch Die verleugnete Gesellschaft ist nicht nur aufgrund der Rekonstruktion dieser internen Spannung Blanchots ein lesenswerter Titel, sondern auch, weil sie zeigt, wie Blanchots Werk selbst als eine Geste der Gemeinschaft zwischen Menschen wie Maurice Blanchot, George Bataille, Marguerite Duras, Emmanuel Levinas und eben Nancy verstanden kann: Es wäre somit „[w]eniger ein Buch über das Thema der Gemeinschaft als vielmehr ein Buch, das selbst Thema einer Gemeinschaft ist, an die es appelliert und nur appelliert (‚Komm!‘), insofern es bereits deren Rede schreibt und vielleicht mehr noch deren Musik“ (59).

Wer sich vorallem mit der Philosophie Nancys und seinem Konzept des Mit-Seins beschäftigen möchte, ist mit anderen Werken womöglich besser beraten. Mit Die verleugnete Gemeinschaft liefert uns Nancy vielmehr einen Einblick in ein Stück französischer Philosophiegeschichte, in das sein Denken verstrickt ist. Vielleicht gelingt es ihm dabei nicht ohne weiteres, den immer noch sperrigen Autor Maurice Blanchot aufzuschlüsseln, aber er zeigt doch auf, warum diese schillernde Figur zu Recht durch die „großen Franzosen“ wie Foucault oder Derrida schimmert. Und so wie Blanchots Schrift damals von dem Lesenden eine Gemeinschaft, gar eine Freundschaft abverlangte, die nicht nur verstehen will, so lässt sich auch Nancys Antwort als Andeutung einer Gemeinschaft, einer Freundschaft lesen, die sich immer voraus ist, die nicht zu sich kommen kann, und so schließlich das ironische Moment bedenkt, dass Nancys Antwort vielleicht zu spät kommen musste.

 

 

 

 

 

 

Jean-Luc Nancy: Die verleugnete Gemeinschaft

Aus dem Französischen von Thomas Laugstien

Zürich-Berlin, diaphanes 2017.

ISBN 978-3-03734-633-4