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Ausgabe Nr. 2 / 2023
Wurzeln

Vielfalt und Kompromisse

Liebe Leser*innen,

 

Meinungsvielfalt und Wertepluralität gehören zur Grammatik spätmoderner Demokratien. Der Anspruch einer verantwortungsvollen Gestaltung von Politik und Gesellschaft verlangt, diese Pluralität bei der politischen Entscheidungs- und Urteilsfindung zu berücksichtigen. Zugleich stellt ebendiese Vielfalt an (widerstreitenden) Interessen, Werteüberzeugungen, Bedürfnissen und Wirklichkeitsinterpretationen, für ein demokratisches Zusammenleben eine große Herausforderung dar.  Ein flüchtiger Blick auf medizinethische, rechtliche oder politische Debatten reicht aus, um zu verstehen, dass die faktische Meinungsvielfalt zu konfliktreichen Spannungen führt. Besonders dort, wo sich unversöhnliche Interessen gegenüberstehen, kein einvernehmlicher Konsens gefunden werden kann und zugleich doch Handlungsnotwendigkeit besteht, werden deshalb Kompromisse bedeutsam. Weil sie die persönliche Zielverwirklichung durch Teilverzicht zugunsten einer für alle akzeptablen Lösung preisgeben, zudem kontextabhängig und nicht universalisierbar sind, genießen sie in deontologischen Traditionen gleichwohl keinen guten Ruf. Trotz ihrer epistemischen und ethischen Ambiguität erweisen sie sich im alltäglichen Miteinander und der politischen Praxis dennoch als unverzichtbare Werkzeuge intersubjektiver Handlungskoordination. Sie ermöglichen es Handlungsblockaden aufzulösen, Dissense zu entpolarisieren und die Konfliktparteien trotz anhaltender Meinungsverschiedenheiten wieder handlungsfähig zu machen. Dass Kompromisse also aus pragmatischen, funktionalen Gesichtspunkten sinnvoll sein können, lässt sich rational gut begründen. Umstrittener ist in der Philosophie indes die Frage nach ihrer moralischen Qualität. Die Essays dieser Ausgabe widmen sich deshalb aus unterschiedlichen Perspektiven Fragen zur Praxis des Kompromisses, zu seinem Status oder den Bedingungen seiner moralischen Rechtfertigbarkeit.

So hält Véronique Zanetti in ihrem Beitrag fest, dass ein Kompromiss – im Unterschied zu einem auf Einsicht basierenden Konsens – eine Form der kognitiven Dissonanz erzeugt. Insofern Individuen oder Parteien aufgefordert werden einer Sache zuzustimmen, die nach ihrem Ermessen epistemisch falsch, moralisch fraglich oder praktisch nicht wünschenswert ist, lassen sich Kompromisse als zutiefst paradoxe Handlungen charakterisieren. Am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs untersucht Sie dabei die Möglichkeit und Begründbarkeit moralischer Kompromisse und argumentiert dafür, dass Kompromisslösungen trotz oder gerade durch die mit ihnen verbundenen Zugeständnisse respektvolle und wertschätzende Wege aus ansonsten unlösbaren Konflikten weisen können.

Um die Moral von Kompromissen in der politischen Praxis besser zu verstehen, rekonstruiert Fabian Wendt in seinem Beitrag unterschiedliche Facetten politischer Moral. Dabei problematisiert er ein Verständnis, das die Faktizität vernünftiger Meinungsverschiedenheiten ausklammert. Er wirbt demgegenüber für ein erweitertes Bild politischer Moral, in dessen Gegenlicht sich Kompromisse als intrinsisch wünschenswert bestimmen lassen – selbst wenn sie aus pragmatischen Gründen weder notwendig sind noch zu einer allgemeinen moralischen Pflicht erhoben werden können.

Die Tatsache, dass Kompromisse und Meinungen, trotz ihres ethisch und epistemisch ungesicherten Status, Teil der lebensweltlichen Praxis sind, nimmt Christian Bermes in seinem Beitrag zum Ausgangspunkt, um deren Bedeutung und Dignität herauszuarbeiten. In seiner von Wittgenstein und Simmel informierten Lesart kommt der Kompromiss als Kulturtechnik und Praxis der Befriedung von Streit in den Blick, die es ermöglicht, Zukunft auch unter den Bedingungen von Unsicherheit und Unentscheidbarkeit wieder als Gestaltungshorizont zu begreifen.

 

 

Jürgen Manemann                               Marvin Dreiwes                                   Anne Weber